Der Politik Thread - Archiv 2020—24

Kurzer Einwurf aus Athen:

Selenskyj hat gestern per Videoschaltung vor dem griechischen Parlament gesprochen und dabei wieder seinen Stil bewahrt und historische Parallelen zum jeweiligen Land gezogen. Hier hat er daran erinnert, dass die Filiki Etairia, die Kernzelle der griechischen Revolution gegen das Osmanische Reich von 1821, in Odessa gegründet wurde und natürlich auch Parallelen zum Widerstand der 300 Kämpfer Leonidas gegen die Perser gezogen. Was anschließend überhaupt nicht gut ankam, war, dass er zwei Asow-Nazis zu Wort kommen ließ. Das führte noch im Parlament zu einem Eklat - inklusive Dringlichkeitssitzung des Parlamentspräsidiums - und ist hier heute überall das bestimmende Tagesthema. Grundsätzlich scheint in Griechenland die Solidarität mit dem ukrainischen Volk eine banale Selbstverständlichkeit zu sein, während man dabei aber auf die unkritische Glorifizierung des ukrainischen Staats verzichtet.

Vorgestern gab es zudem einen landesweiten Generalstreik mit Fokus auf Preisanstieg bei Energie und Lebensmitteln, aber es wurde sich auch entschieden gegen jede Beteiligung des griechischen Staates am Krieg in der Ukraine gestellt. Bahnarbeiter*innen hatten schon zuvor NATO-Panzerlieferungen in die Ukraine blockiert. Gesundheitswesen und Privatisierungen waren natürlich ebenfalls als Themen präsent. Wenn es nach EU, IWF und den Herrschenden in Griechenland geht, wird demnächst auch noch die Wasserversorgung privatisiert.

Athen als Stadt wirkt etwas wie ein Experiment mit der Fragestellung „Wie lange dauert es eigentlich, bis eine Millionenstadt am Ende ist, wenn niemand mehr was für ihre Erhaltung und Entwicklung tut?“, und das ist eigentlich in konzentriertester Form das Spiegelbild des ganzen Landes, in dem seit über zehn Jahre das Experiment „Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Land am Ende ist, wenn man seine Vitalfunktionen planmäßig unterbindet?“ läuft. Um es positiv zu formulieren: Gentrifizierung ist für Athen wirklich kein akutes Problem. Selbst bulgarische und rumänische Großstädte sehen bei Weitem nicht so krass heruntergekommen aus wie Athen. Überall Leerstand und um Instandhaltung von Straßen und Gehwegen scheint sich seit Jahren überhaupt niemand mehr zu kümmern. Ich war noch in keiner europäischen Hauptstadt, deren Zentrum ein vergleichbar kaputter und verarmter Moloch ist. Im Vergleich zu Athen war Kiew vor drei Jahren zumindest im Zentrum eine saubere Vorzeigestadt. Dazu kommen der wahnsinnige Autoverkehr und die totale Zubetonierung der Stadt, die kaum mal etwas durch Grünflächen aufgelockert wird. Man sieht auch nahezu überhaupt keine größeren Gebäude, die aussehen als seien sie nach der Jahrtausendwende gebaut worden. Es gibt fast keine sanierten Altbauten mit aufgefrischten Fassaden und die schönsten klassizistischen Prachtbauten verkommen und stehen oft leer. Hier scheinen alle Wirtschaftssektoren so zum Erliegen gekommen zu sein, dass die weitere Stadtentwicklung aufgehört hat und auch der Bestand immer mehr verfällt.

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