Der Politik Thread - Archiv 2020—24

Nicht auf der Couch, aber: Meine Frau.

Ich komme aus einer recht gutsituierten Doppel-Akademikerfamilie, Eltern sind Chemiker/Manager und Gymnasiallehrerin. Für mich war nie die Frage, ob ich studiere und wer das bezahlt, sondern nur was.

Meine Schwiegereltern sind Maurerpolier und Verwaltungsmitarbeiterin. Mit deren Familien kann man ohne externe Hilfe ein komplettes Haus bauen, meine Frau ist die erste in der ganzen Familie, die studiert hat. Nicht promoviert oder so, studiert. Am liebsten hätte sie etwas in Richtung Innenarchitektur und Design gemacht, aber das war komplett ausser Frage, weil ihre Eltern das nie unterstützt hätten. Deshalb Chemie, und selbst da hat es die Unterstützung ihres damaligen Chemielehrers gebraucht, der zu ihren Eltern gegangen und ihnen vermittelt hat, dass es eine riesige Verschwendung ihres Intellekts wäre, sie nicht nach München studieren gehen zu lassen. Um zu zeigen, dass es ihr ernst ist, hat sie während des Abijahrs das komplette Geld für das erste Jahr zusammengespart.

Gut, dann war sie im Studium. Wir haben uns in den ersten paar Semestern als Tutoren kennen gelernt. Ich habe das gemacht, um mehr Taschengeld zu haben, sie hat an mehreren Wochentagen Tutorien gemacht und am Wochenende im Hotel gearbeitet, um ihr Leben zu finanzieren, weil ihre Eltern sie nur bedingt finanziell unterstützen konnten und das wenige Bafög (familiäre Sondersituation) in München nirgendwohin reichte.

Ihr Arbeitspensum zusätzlich zum Chemiestudium war enorm, ich hätte das ehrlich gesagt nie durchgehalten. Am Ende litten die Noten unter dem Stress, bis irgendwann meine Eltern eingeschritten sind und ihr ein zinsloses Darlehen gegeben haben (ein Geldgeschenk wollte sie nicht annehmen). Das waren „nur“ ein paar Tausend Euro, meine Eltern meinten damals, eine bessere Investition als in ihre Bildung gäbe es nicht, und es hat für meine Frau alles verändert.

So, 6 Jahre später hat sie promoviert, einen Postdoc am MIT gemacht und ist nun Professorin für Chemie. Und ein wesentlicher Faktor war der finanzielle Spielraum, den meine Eltern hatten, ihre aber nicht. Es kommt einem im Nachhinein absurd vor, dass diese 3000 Euro oder was ihre Karriere ermöglicht haben, denn mit ihrem Stipendium zwei Jahre später war das in Windeseile wieder zurückgezahlt.

Und von der finanziellen Seite mal abgesehen: Ich als Akademikerbubblekind (auf meiner Schule waren über 90% Akademikerkinder) hatte komplett unterschätzt, wie sehr man kämpfen muss, wenn man sich aus seinem ursprünglichen Milieu nach „oben“ verabschiedet. Meine Eltern wussten, wie ein Studium abläuft, was für ein Brocken eine naturwissenschaftliche Doktorarbeit in einer ambitionierten Gruppe ist, für ihre Eltern war das alles unverständlich und fremd. Sie wussten nicht, wie sie ihre Tochter unterstützen sollen oder können, sie haben nur gesehen, dass die Kinder in der Verwandschaft nach 3 Jahren Ausbildung Geld verdienen und viel mehr Freizeit haben. Meine Frau sagt immer, sie hatte das grosse Glück, an den entscheidenden Punkten ihres Lebens die richtigen Menschen, Unterstützer und Vorbilder (mich :ulove: ) getroffen zu haben, sonst hätte sie irgendwann aufgegeben.

Was ich mit dieser Geschichte sagen will: Ich hatte es SO viel einfacher als sie. Habe ich nicht hart gearbeitet? Doch, habe ich auf jeden Fall. Aber man darf nicht unterschätzen, was es für einen Unterschied macht, dass ich diese akademischen Milieus kannte und ich mir nicht an jeder Ecke die Frage stellen musste, ob ich hier hingehöre - ich habe es selbstverständlich angenommen.

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