Zum Thema Bildungsgerechtigkeit habe ich mal ein Referat im Rahmen meines LA Studiums halten dürfen. Den Text hau ich hier einfach mal rein. Allein, um zu sehen wie lang 5 einhalb Seiten Text als Post sind.
Bildungsgerechtigkeit
Wie gerecht ist das deutsche Schulsystem?
Einleitung
„Bildungsgerechtigkeit heißt, allen Menschen pädagogische Unterstützung nach individuellen Bedingtheiten und Bedürfnissen zukommen zu lassen“ (Rekus 2013: 48). Inwieweit das deutsche Schulsystem diesem Anspruch im Hinblick auf das einzelne Individuum gerecht wird, soll Gegenstand dieses Textes sein.
Bildungspolitische Reformen wie die Gründung von Gesamtschulen haben mit dazu beigetragen, dass der Anteil von Volks- bzw. Hauptschülern zwischen 1952 und 2005 von 78 % auf 24 % zurückgegangen ist, während sich der Anteil von Schülerinnen und Schülern an Gymnasien von 15 % auf 33 % verdoppelt und an Realschulen von 7 % auf 27 % vervierfacht hat. (Solga 2009: 61) Das Bildungsniveau im Schulsystem steigt also, doch was bedeutet das für die Chancengleichheit?
Aus der Vorlesung von Professor Ladenthin ist uns bereits das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ bekannt, welches in den 1950er Jahren den Archetyp des im deutschen Schulsystem benachteiligten Kindes darstellte. Im Zuge der Bildungsexpansion wurden nun besonders die Benachteiligungen von Frauen und Mädchen abgebaut. So waren 2015 52 % der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien weiblich. An Hauptschulen liegt der Anteil an Mädchen sogar bei nur 43,5 %. (Schulen auf einen Blick 2016: 16) Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass die Bildungsexpansion in Deutschland nicht zu einem Abbau, sondern zu einer Umverteilung von Chancengleichheit bzw. Chancenungleichheit geführt hat. So ist an die Stelle des katholischen Arbeitermädchens vom Lande aus den 50er Jahren heute der Junge mit Migrationshintergrund aus der Stadt als Stereotyp des benachteiligten Schülers getreten. Bildungsbenachteiligung lässt sich, damals wie heute, an vier verschiedenen Aspekten festmachen: der gesellschaftlichen Schicht, der Religion (kultureller Hintergrund), dem Geschlecht und dem Wohnort (Stadt/Land). (Solga 2009: 13)
Dieser Text wird sich im Folgenden auf die Effekte der sozialen Herkunft und des Migrationshintergrundes konzentrieren.
Soziale Herkunft
Internationale Vergleichsstudien wie PISA (Programme for International Student Assessment) und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) haben gezeigt, dass die sozioökonomische Herkunft eines Kindes in Deutschland maßgeblich dessen Bildungserfolg bestimmt. Diese Studien haben ergeben, dass bereits in der Grundschule „Ungleichheiten im familiären kulturellen Kapital […] nicht kompensiert“ (ebd.) werden. Mit kulturellem Kapital sind im Hinblick auf die Lesekompetenz bspw. Faktoren wie die soziale Schichtzugehörigkeit einer Familie, der höchste Bildungsabschluss eines Elternteils oder die Menge an Büchern im Haushalt gemeint. Im internationalen Vergleich ist dieses Kapital in Deutschland relevanter für den Bildungserfolg als in anderen Ländern. (ebd.: 13f.)
Besonders bei dem bereits erwähnten Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schulform spielt die Schichtzugehörigkeit der Familie eine große Rolle. Die IGLU-Studien haben ergeben, dass Kindern mit gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Fähigkeiten unterschiedliche Schullaufbahnempfehlungen durch die Lehrkräfte ausgesprochen werden, abhängig von der sozialen Herkunft der Familie. Die Studie zeigt, dass „Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern […] von ihren Lehrern […] erst bei deutlich höheren Leistungswerten eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern“ (Bos 2007: 20) erhalten. Die ermittelten Werte blieben auch bei den Studien der Jahre 2011 und 2016 ähnlich. „Bedenklich ist hingegen der konstant hohe Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler und den Schullaufbahnpräferenzen. Auch unter Kontrolle der Lesekompetenz und der Deutschnote haben Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern eine deutlich höhere Chance auf eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsfernen Familien.“ (Hußmann 2017: 248)
In Deutschland fällt das kulturelle Kapital einer Familie also nicht nur schwerer ins Gewicht, als in anderen Ländern. Beim Übergang in die Sekundarstufe werden Kinder aus niedrigen sozialen Schichten nachweislich benachteiligt, was es ihnen im Verlauf ihrer Schulkarriere erschwert Kompetenzen zu entwickeln und diese Kompetenzen letztendlich in Abschlüsse umzuwandeln.
Die Gründe für diese Form der Benachteiligungen sind sehr komplex und wurden vom französischen Soziologen Raymond Boudon 1974 in seinem Werk Education, Opportunity, and Social Inequality in primäre und sekundäre Herkunftseffekte unterschieden.
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Primäre Herkunftseffekte sind gemeint, wenn ungleiche Schulleistungen, aufgrund der besseren familiären Möglichkeiten das Kind in der Schule zu unterstützen, die Ursachen für Bildungsungleichheit sind.
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Sekundäre Herkunftseffekte beschreiben, warum trotz gleicher Schulleistungen Kinder aus unterschiedlichen Schichten unterschiedliche Laufbahnempfehlungen erhalten. Gemeint sind damit subjektive und schichtspezifische Entscheidungsprozesse.
Sekundäre Herkunftseffekte sind also subjektive Bewertungen der Lehrerinnen und Lehrer, zum Beispiel im Hinblick auf die Umgangsformen von einzelnen Schülern, deren Lerngewohnheiten oder auch im Hinblick darauf, dass die Lehrkraft das Unterstützungspotenzial der Eltern am Gymnasium als zu gering einschätzt. (Solga 2009: 23)
Die IGLU- und PISA-Testergebnisse zeigen außerdem, dass auch Eltern die Leistungsfähigkeit ihrer Kinder falsch einschätzen, abhängig von ihrer sozialen Schicht. „Fast alle Eltern aus oberen sozialen Schichten möchten ihre Kinder bei guten Schulleistungen auf ein Gymnasium schicken; Eltern aus unteren sozialen Schichten schicken ihre Kinder hingegen selbst mit guten Schulnoten viel seltener auf ein Gymnasium (38 %)" (ebd.). Diese Art von leistungsfremden Bildungsentscheidungen werden unter anderem aufgrund mangelnder Erfahrungen mit längeren Bildungswegen, mangelnder finanzieller Ressourcen, der Angst das eigene Kind nach nur vier Jahren Schule falsch einzuschätzen oder ihm oder ihr nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen zu können getroffen. (Geißler 2014)
Wo die Schule also eigentlich den Auftrag hat, Chancenungleichheit zu kompensieren, wird diese in Deutschland in vielen Fällen sogar noch verstärkt. Dadurch, dass sich Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern bei der Laufbahnempfehlung nach der Grundschule von subjektiven und leistungsfremden Entscheidungsprozessen leiten lassen, wird die soziale Schichtzugehörigkeit zu einem entscheidenden Faktor für den Bildungserfolg der Kinder.
Migrationshintergrund
Neben der sozialen Schicht ist auch ein etwaiger Migrationshintergrund von besonderer Relevanz beim Kompetenzerwerb im deutschen Schulsystem. Obwohl Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in allen teilnehmenden Ländern durchschnittlich schlechter im IGLU-Test abschneiden als Kinder ohne Migrationshintergrund, bleibt doch festzuhalten, dass die Kompetenzunterschiede in Deutschland besonders ausgebildet sind. Bei Kindern mit Migrationshintergrund überlappen sich die Gründe für eine Benachteiligung außerdem häufig damit, dass sie einer niedrigen sozialen Schicht angehören. Dementsprechend besuchen Kinder mit Migrationshintergrund auffällig häufiger Hauptschulen als Kinder ohne Migrationshintergrund. (ebd.: 17) Im Jahr 2014 hatten 48 % der Schülerinnen und Schüler an Hauptschulen einen Migrationshintergrund, im Gegensatz zu nur 26 % an Gymnasien. (Datenreport 2016: 86)
Allerdings belegt die Tatsache, dass Kinder mit Migrationshintergrund auch dann schlechtere Leistungen erbringen, wenn sie aus der gleichen sozialen Schicht stammen wie Kinder ohne Migrationshintergrund, „eine Benachteiligung im Kompetenzerwerb im deutschen Bildungssystem, die darauf beruht, dass der Migrationshintergrund als solcher im Bildungsprozess relevant wird“ (Solga 2009: 16).
Gründe hierfür sind schwerer auszumachen als bei Untersuchungen über die Auswirkungen der sozialen Herkunft, da Benachteiligungen aufgrund des Migrationshintergrundes in Deutschland erst seit Mitte der 1990er Jahre genauer untersucht werden. Dementsprechend gibt es noch zu wenige Studien, um die Ursachen für das schlechtere Leistungsniveau der Kinder mit Migrationshintergrund fundiert zu belegen. Als mögliche Gründe wurden unter anderem Sprachbeherrschung, kulturelle Unterschiede, ethnisch separierte Lernumwelten sowie Vorurteile und Zuschreibungen der Lehrenden untersucht. (ebd.: 25ff.) Sogar der Verdacht von institutioneller Diskriminierung wurde aufgeworfen durch die Ergebnisse einer Studie aus den 90er Jahren. Die Studie zeigte auf, dass „Leistungsbeurteilungen und Selektionsentscheidungen sich an Normalitätserwartungen orientieren, die der Schul- und Sprachfähigkeit deutschsprachiger Kinder der Mittelschicht entspricht“ (ebd.: 29). Wie stark sich diese Effekte und Mechanismen tatsächlich auswirken wurde bislang allerdings ungenügend erforscht.
Es bleibt die Tatsache festzuhalten, dass Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem schlechter abschneiden als im internationalen Vergleich. Unser System schafft es also nicht, das Bildungspotenzial dieser Personengruppe so zu fördern wie andere Länder. Studien, wie die der Hans-Böckler-Stiftung, vermutet daher, dass die Ursachen für diesen Zustand nicht individueller, sondern organisatorischer und struktureller Natur sind. (ebd.: 16)
Fazit
Sowohl die Ursachen als auch mögliche Lösungen für die Chancenungleichheit im deutschen Schulsystem sind überaus komplex und beruhen, wie im Fall der sekundären Herkunftseffekte, häufig auf subjektiven Entscheidungsprozessen. Sie sind dementsprechend schwerer greifbar. Dass andere Länder es im Vergleich schaffen ihren Schülerinnen und Schülern bessere Bildungschancen zu eröffnen, bleibt dennoch das empirische Ergebnis einer Vielzahl von Schulleistungsuntersuchungen der letzten 18 Jahre. Der Abbau des dreigliedrigen Schulsystems und mit ihm die seit Jahren rückläufige Anzahl von Hauptschulen sorgt dafür, dass immer weniger Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen von höheren Abschlüssen ausgeschlossen werden. Dies kann als einer von vielen noch kommenden und notwendigen Schritten in die richtige Richtung gesehen werden, um Benachteiligungen im deutschen Schulsystem zu reduzieren.
Es geht nicht darum, betroffene Eltern oder ihre Kinder aus der Verantwortung für ein gutes Lernumfeld oder die Lernmotivation zu entlassen, „[g]leichwohl ist […] für Schülerinnen und Schüler mit wie ohne Migrationshintergrund anzufügen, dass eine niedrigere soziale Herkunft nicht das ‚Defizit’ der Kinder ist, sondern zum einen ein Integrationsdefizit des Arbeitsmarktes hinsichtlich der Elterngeneration ausweist und zum anderen ein Kompensationsdefizit des deutschen Schulsystems markiert, denn es sind die Organisationsprinzipien und Unterrichtsmerkmale der deutschen Schule, die sozial ungleiche Lernausgangslagen im Lernprozess relevant – zumeist ungleichheitsverstärkend relevant – werden lassen." (ebd.: 26)
Literatur
Bos, Wilfried; u.a. (Hrsg.): IGLU 2006: Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich: Zusammenfassung . Münster: Waxmann 2007.
Geißler, Rainer: Bildungsexpansion und Bildungschancen.
http://www.bpb.de/izpb/198031/bildungsexpansion-und-bildungschancen?p=all [Stand 04.01.2018].
Hußmann, Anke; u.a. (Hrsg.): IGLU 2016: Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich . Münster – New York: Waxmann 2017.
Rekus, Jürgen; Mikhail, Thomas: Neues schulpädagogisches Wörterbuch . 4. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz 2013.
Solga, Heike; Dombrowski, Rosine: Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung: Stand der Forschung und Forschungsbedarf . In: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Arbeitspapier, Bd. 171. Düsseldorf: 2009.
Statistisches Bundesamt: Schulen auf einen Blick: Ausgabe 2016 . Wiesbaden: 2016.
Statistisches Bundesamt: Datenreport 2016: Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland . Bonn: 2016.